NEURALTHERAPIE

Neuraltherapie ist die Behandlung von chronischen oder akuten Erkrankungen mit einem Lokalanästhetikum, meist Procain. Diese Therapieform nutzt die körpereigene Steuerungs- und Ausgleichsfunktion des vegetativen Nervensystems.

Gelenkschmerzen und Wirbelsäulenbeschwerden mit muskulären Verspannungen, Verdauungsstörungen mit Durchfall und Verstopfung sowie "Krampfzustände" der Blutgefäße mit Kopfschmerzen und Schwindel: Solche Beschwerden können laut Neuraltherapeuten Funktionsstörungen sein, die durch bestimmte Krankheitsherde, sogenannte "Störfelder", aufrecht erhalten werden. Dabei handelt es sich nach Auffassung der naturheilkundlich ausgerichteten Neuraltherapie um chronische Entzündungsherde. "Diese Störfelder irritieren kontinuierlich das vegetative Nervensystem und setzen den Körper unter Dauerstress", erklärt Medizinalrat Dr. Rainer Wander, Allgemeinarzt, Neuraltherapeut und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Akupunktur und Neuraltherapie.

Mit gezielten Injektionen eines Betäubungsmittels kann man aber – gemäß dem Prinzip der Neuraltherapie – den Teufelskreis der chronischen Entzündung unterbrechen, der beständig Beschwerden verursacht. Je nachdem, wo der Therapeut die Spritze setzt, lassen sich verschiedene Formen der Neuraltherapie unterscheiden.

 

1. Segmenttherapie im Einflussbereich eines Spinalnerven

"Bei der Segmenttherapie nutzen wir das Wissen, dass jeder aus dem Wirbelkanal abgehende Spinalnerv einen bestimmten Bereich des Körpers erreicht", sagt Wander.

Über die paarig angeordneten Spinalnerven erreichen Gefühlswahrnehmungen, etwa Schmerzen, das Rückenmark, und über weitere Verschaltungen das Gehirn. Dieses gibt über die Spinalnerven Befehle weiter, etwa an Muskeln, woraufhin sie zum Beispiel für eine Schonhaltung sorgen. Die sensiblen Hautnerven verteilen sich auf bestimmte Zonen. Diese Dermatome sind wiederum den Spinalnerven zugeordnet. "Hat ein Patient Schulterschmerzen, wird das über den Spinalnerv C5 vermittelt. Spritzt man das Betäubungsmittel in der dazugehörigen Zone in die Haut und an die Gelenkkapsel, kann man den Nervenreiz und damit die Schmerzen in seinem Einflussbereich dämpfen", erklärt Wander. Für den Patienten machen sich die Injektionen in die Haut als Quaddeln bemerkbar. Das Mittel könne aber auch in die Nachbarschaft von Muskelansätzen, der Knochenhaut oder Gefäßen gespritzt werden, um die gewünschten Reflexe im Nervensystem auszulösen beziehungsweise zu dämpfen.

 

2. Erweiterte Segmenttherapie

Führt die Segmenttherapie zu keiner vollständigen Besserung, kann eine erweiterte Segmenttherapie angebracht sein. Dabei spritzt der Neuraltherapeut das Betäubungsmittel in die Nähe von Nervenknoten des vegetativen Nervensystems, die Ganglien. Das vegetative Nervensystem besteht aus den Gegenspielern Sympathikus und Parasympathikus: Das sympathische System aktiviert Flucht oder Angriff, führt zum erhöhten Verbrauch von Energie, aktiviert Entzündung und Schmerz, während das System des Gegenspielers entspannenden, regenerierenden und entgiftenden Funktionen dient.

Außerhalb des Wirbelkanals gibt es den sogenannten Grenzstrang, in dem Nervenknoten des Sympathikus liegen, die Ganglien. Diese kann der Arzt mit tieferen Injektionen erreichen.

3. Störfeldtherapie mit Fernwirkung

Laut den Theorien der Neuraltherapeuten kommt es allerdings auch vor, dass ein Störfeld für eine Funktionsstörung in einem völlig anderen Bereich des Körpers verantwortlich ist. 1940 entdeckte der Mediziner Ferdinand Huneke diese Fernwirkung, als er bei einer Frau eine Knochenhautentzündung am Bein behandelte und sich dadurch schlagartig ihre Schulterschmerzen besserten. Deshalb vermutete der Arzt als Ursache Störfelder, die den Gesamtorganismus schwächen. "Heutzutage bezeichnet man solche chronischen Entzündungsherde, die Störfelder, besser als neuromodulative Trigger", sagt Wander.

Diese Trigger aktivieren laut Wander zwei Stressachsen im Körper: Eine schnell wirksame Achse über das Nervensystem und eine langsamere über das Hormonsystem. "Der Körper kann sich wegen der Daueraktivierung des sympathischen Systems nicht mehr erholen und wird krank. Die Beschwerden zeigen sich dann dort, wo eine natürliche Schwachstelle des Körpers vorliegt." Dementsprechend könne ein schiefliegender oder toter Zahn durchaus Asthma oder Knieschmerzen hervorrufen.

 

Suche nach dem Auslöser

Das Aufspüren der Störfeldursache bezeichnet der Neuraltherapeut Dr. Reza Schirmohammadi als geradezu detektivische Arbeit. Zunächst sei eine genaue Befragung des Patienten notwendig. Die Ursache müsse bereits länger als die beobachteten Beschwerden bestehen. Narben kommen beispielsweise als Trigger infrage. "Sogar der Nabel, weil er ja sozusagen eine Narbe ist, die bei der Geburt entsteht", sagt Schirmohammadi, der Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin ist. Viele chronische Entzündungsherde liegen aber auch im Hals-Nasen-Ohren-Bereich: Zähne, Mandeln, Nasennebenhöhlen, Ohren. Ebenso können Herde im Becken liegen, im Bereich des Afters, der Prostata, der Scheide, des Muttermunds oder der Gebärmutter.

"Habe ich einen möglichen Herd gefunden, folgt ein Behandlungsversuch", sagt Schirmohammadi. Der Arzt umspült per Spritze die entzündeten Zellen mit einem betäubenden Arzneistoff, dem Lokalanästhetikum. Manchmal bessern sich die Beschwerden dadurch sofort. Das nennen Neuraltherapeuten "Sekundenphänomen". Wander: "Bei Patienten mit chronischen Beschwerden kann aber auch eine Regulationsstarre vorliegen." Das Nervensystem lässt sich also nicht sofort umprogrammieren. "Dann zeigt sich erst nach drei bis fünf Sitzungen ein Effekt." Setzt nach der sechsten Sitzung immer noch keine Besserung ein, kommt man in dem Fall mit der Neuraltherapie nicht weiter.